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Verein für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.

Godesbergs erste Influencerin

Die „Lindenwirtin“ Aennchen Schumacher wusste vor hundert Jahren nicht nur mit trunkenen Männern umzugehen

(3./4. Juni 2023, General-Anzeiger)

VON EBBA HAGENBERG-MILIU

BAD GODESBERG | . An diesem Sonntagnachmittag des Jahres 1885 war die Stimmung im Gasthaus der Schwestern Schumacher-Rieck unterhalb der Godesburg besonders ausgelassen. Die Jüngere, Anna Schumacher (1860-1935), liebevoll „Aennchen“ gerufen, kümmerte sich um den Service. In der Küche sorgte Halbschwester Gertrud Rieck, genannt „Träudelchen“ (1850-1921), dafür, dass neben dem Bataillon an Flaschenbier das Buffett aus Schnittchen mit „Klosterkäse und Leberwurst“ nicht zur Neige ging, wie „Aennchen“ sich 1929 in ihrer Autobiografie erinnerte. Über drei Jahrzehnte liefen die Geschäfte des „Gasthofs zum Godesberg“ prächtig. Und das vor allem dank der täglich bis zu 500 Studenten der Bonner Universität, die sich zu Fuß oder per Bahn nach Godesberg aufmachten.

An jenem Sonntag begleitete Schumacher gerade zechende „Musensöhne“ zu Trinkliedern. Eines war das von Rudolf Baumbach 1878 verfasste schwärmerische Lied über eine liebevolle „Lindenwirtin“ – das ihre Kunden bald auf sie bezogen. „Das Lied hatte eine anregende und recht einschmeichelnde Melodie, sodass ich selbst mich dafür begeisterte“, sollte Schumacher im Alter abgeklärt urteilen. Denn die zukünftigen Herren Doktoren und Professoren hatten das Lied über diese beste aller Lindenwirtinnen bald weltweit verbreitet. Die Euphorie sollte erst ihrem Gasthof und später ihrem Verlag wahrlich nicht geschadet haben, dürfte sich „Aennchen“ 1929 gedacht haben.

Begehrenswerte Frau unter der Linde

Dabei hatte sie sich als junge Frau noch verschreckt „wie eine Kriegerin“ gegen die poetische Verklärung gewehrt: „Da ich wirklich nicht so zärtlich veranlagt war, wie das in dem Liede steht.“ Sie habe nie einem Wanderburschen den Mantel noch Hut und Rucksack abgenommen. „Lindenwirtin zu sein ist daher nicht ganz so einfach, wie die meisten Besucher hier sich das vorstellen“, seufzte sie. Und dann hatten an diesem Sonntagnachmittag 1885 plötzlich Studiosi aus Poppelsdorf dem populären Lied „zum Entsetzen der Lindenwirtin“ noch eine weitere Strophe hinzugefügt: die von der auch körperlich begehrenswerten Frau unter der Linde, „schwarz das Auge, schwarz das Haar, Aennchen wars, die Feine“.

Es ist in der Broschüre „Notgeld“ von 1920 überliefert, dass die Gäste die Strophe mit lautem Jubel mitsangen und aufschrieben, was aber das „Aennchen zum fluchtartigen Verlassen des Saales veranlasste“. Jetzt war diese Wirtin also weit über 100 Jahre vor dem Siegeszug von Internet und sozialen Medien zum Star geworden. Bonn als damalige Hochburg studentischer Burschenschaften brachte Legionen von bei Bier feiernden Akademikern hervor, die dann beruflich in die Welt hinaus gingen.

1891 war Schumacher so clever, ihr Lokal selbst in „Zur Lindenwirtin“ umzubenennen. So trudelten dann Postkarten aus Australien oder Russland bei ihr ein, die lediglich an „Aennchen Deutschland“ adressiert waren. Aus China schaffte es ein Gruß, der nur die Adresse „n“ (also rheinisch kurz: „Aenn“) und „Deutschland“ angab. 1920 sollte ihr Konterfei sogar auf einem Notgeldschein prangen. „Das Aennchen“ war Kult geworden. Was heute auf dem Burgfriedhof vor ihrem gut bürgerlichen Familiengrab zu denken gibt. Rundherum jäten ein paar Trauernde Unkraut von Gräbern. Im Sonnenlicht blinken die zwei schwarzen Grabtafeln der Schumachers unter dem gekreuzigten Jesus. „Hier ruhen in Frieden“ die Eltern, Halbschwester Gertrud und „Aennchen“, „die Lindenwirtin und Ehrenbürgerin von Godesberg“, steht drauf. Eine Gastwirtstochter als erste weibliche städtisch Geehrte war natürlich außergewöhnlich. Zumal eine, die eigentlich Lehrerin werden wollte, aber 18-jährig durch den frühen Tod des Vaters die Kneipe übernehmen musste, wie etwa Lokalhistoriker Martin Ammermüller berichtet. Plötzlich trug sie für die Mutter, die Halbschwester und den jüngeren Bruder Verantwortung. Anna Schumacher war, das zeigen Fotos, keine Schönheit. Aber sie war wohl das, was man heute tough nennt: eine kreative, geschäftstüchtige Frau mit selbstbewusstem, aber ernstem Blick, die den richtigen Riecher hatte, ihre Kneipe zum wichtigsten studentischen Treffpunkt am Rhein auszubauen. Die ohne Dünkel war, aber eine starke Marketingbegabung hatte, so Ammermüller. Wer mal seine Biere nicht zahlen konnte, dem half sie aber auch aus. Mit ihrer natürlichen Autorität sorgte sie selbst unter verfeindeten Burschenschaften pragmatisch für „Burgfrieden“. Strategisch clever platzierte sie die saufenden „Musensöhne“ im Kuh- oder im Kälbersaal, im Linden- oder im Billardsaal. In Notfällen konnte sie flugs ein Fremdenzimmer räumen oder Krakeeler in die „Bierleichenkammer“ verfrachten, wo die ihren Rausch ausschliefen, schrieb sie 1929.

Da war sie längst aus dem Gastgewerbe ausgeschieden. Im Ersten Weltkrieg waren keine Geschäfte zu machen. Danach verkaufte sie das Gasthaus an den Männergesangverein Cäcilia – und wurde ein paar Häuser weiter Verlegerin für von ihr signierte Postkarten sowie Volks- und Trinklieder. Zahlreiche Gassenhauer hatte dafür Bruder Josef, ein geselliger und äußerst trinkfester Geselle, komponiert. Seine Schwester machte sie schnurstracks zu Geld. Auf ihre Art war das unverheiratete „Aennchen“ also so etwas wie Godesbergs erste Influencerin.

Jenseits aller Klischees sei Schumacher „eine starke Frau in einer extrem männlich geprägten Welt“ gewesen, urteilt Iris Henseler-Unger, Vorsitzende des Heimatvereins. Als Unternehmerin habe sie eine weit bekannte Institution geschaffen und ihr „Kommersbuch“ mit Liedern im Eigenverlag publiziert. Auch heute noch halten Godesberger wie Uwe Schaak Buchexemplare mit handschriftlicher Widmung als Schatz in Ehren. „Das Aennchen ist Bad Godesberg“, so Schaak.

Sie sei halt eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen, pflichtet ihm Manfred von Negelein, Präsident der Sportschützen Aennchen 1957, bei. Der Verein legt jedes Jahr am Grab Blumen nieder. „Sie hatte einen fast weltweiten Starstatus, den sie genoss, aber vor dem sie auch zurückschreckte“, meint Henseler Unger. „All das macht sie zu einer modernen Frau.“ Und vor allem: „Ihr gelang es, zum internationalen Renommee Godesbergs entscheidend beizutragen.“

Dass die Nazis ihr Begräbnis 1935 propagandistisch ausschlachteten, dürfte wohl eher nicht in „Aennchens“ Sinne gewesen sein.

DIE SERIE – Geschichten am Grab erzählt

Zu Lebzeiten waren sie hochgeschätzt, ja verehrt, manche auch gefürchtet. Auf jeden Fall waren sie prominent. Sie lebten zuletzt in Bad Godesberg und wurden hier bestattet. Doch wer kennt diese Personen heute noch? Wer erinnert sich an ihr Leben? Und vor allem: Wie wird ihr Wirken heute gesehen? Wir laden ein zum Spaziergang auf lokalen Friedhöfen. Und zu Gräbern einer Reihe von Godesberger Promis.

Bislang erinnerten wir an die Politiker Herbert Wehner, Kai-Uwe von Hassel, Rainer Barzel und Erich Mende, an den „Vater der Bundeswehr“ Ulrich de Maizière, die Pfarrer Julius Axenfeld und Friedrich Bleek, Schauspieler Paul Kemp, die Bürgermeister Heinrich Hopmann und Josef Zander sowie an SS-Obergruppenführer Wilhelm Koppe. ham

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