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Verein für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.

„Jetzt kommen sie mich wieder holen“

Bad Godesberg Auf der Spur der einzigen Godesberger Holocaust-Überlebenden, die aus dem KZ zurückkehren wollte: Wie lebte Mathilde Dardenne weiter in Muffendorf?

(26. Januar 2023, General-Anzeiger)

Von Ebba Hagenberg-Miliu

In diesem schmucken Dorfhaus mit den roten Klinkerbordüren in der Klosterbergstraße 20 hat Mathilde Dardenne (1867-1956) also ihre letzten elf Lebensjahre gewohnt. Helga Schell zeigt im Innenhof hoch zu zwei kleinen Fenstern. „Da oben saß sie im graubraunen Ohrensessel. Als sie schwächer wurde, lag sie nur noch im Bett“, erzählt Schell. Sie ist eine Enkelin des Fleischerpaars Peter und Helene Bell, das Mathilde Dardenne ab 1945 in ihrem Haushalt versorgte. War es ein friedlicher Lebensabend, den die alte Dame hier fast unter dem Kirchturm von St. Martin verbrachte? Immerhin war sie 1945 als einziges Godesberger Holocaust-Opfer aus den Konzentrationslagern an ihren Wohnort zurückgekehrt. Und das 78-jährig nach furchtbaren Jahren im KZ Theresienstadt.

Dem Haushalt zugeteilt

Dardenne sei 1945 dem Haushalt zugeteilt worden, hat Schell von ihrer Mutter Leni erzählt bekommen. Sehr abgemagert sei die alte Frau mit der im Arm blau eintätowierten Häftlingsnummer gewesen. Wohl alle im damaligen Muffendorf hätten von der Unterbringung gewusst, aber niemand habe die Frau besucht, fährt Schell fort. Und sie ist selbst erstaunt zu erfahren, dass Dardenne, bevor die Nazis sie 1941 holten, schon 13 Jahre nur einen Steinwurf entfernt gewohnt hatte: in der Muffendorfer Hauptstraße 42. Auf jeden Fall habe sich die alte Dame nach 1945 im Haus in der Klosterbergstraße, das zuvor entfernten Verwandten von ihr, den ebenfalls jüdischen Sommers, gehört hatte, im Zimmer verschanzt, sagt Schell. „Sie wollte niemanden sehen außer ihrem Sohn.“ Schell erfuhr, dass ein Sohn die Nazizeit wohl in Belgien überlebt habe und später aus Brüssel angereist sei.

Mathilde Dardenne, geborene Carl, stammte aus Weilerswist, antwortet die Bonner Gedenkstätte auf GA-Frage. Sie habe nach Belgien geheiratet und sei 1928 als Witwe in den Haushalt ihrer Schwester Julie Sommer (1862-1937) in die Muffendorfer Hauptstraße 42 gezogen, ergänzt der ehemalige Stadtarchivar Norbert Schloßmacher. 13 Jahre war Dardenne hier im malerischen Fachwerkhaus also selbstverständlich Dorfbewohnerin gewesen. Bis sie 1941, die Nazis betrieben längst „die Endlösung der Judenfrage“, in das Haus Friesdorfer Straße 92 der jüdischen Familie Isaac wechselte. „Gewiss unfreiwillig“, sagt Schlossmacher. Max und Sarah Isaac wurden 1942 im KZ Treblinka ermordet.

Ins Ghettohaus geschafft

Da hatte man die alte Frau Dardenne schon weiter in ein Kölner Ghettohaus geschafft, von wo aus sie am 19. April 1943 über Berlin ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Und zwar, wie Dokumente der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem zeigen, im Transport 1/91: zusammengepfercht mit 100 weiteren Opfern in einem für jeden erkennbaren, „an den fahrplanmäßigen Personenzug angehängten Waggon“ über den Bahnhof Dresden ins tschechische Bohusovice. Von dort aus ging es per „Fußmarsch“ ins KZ, das mit 40 000 Häftlingen zum Bersten voll war. Trotzdem überlebte die damals 76-jährige Mathilde Dardenne dort, wo die Menschen wie die Fliegen starben, und entschloss sich nach der Befreiung, nach Muffendorf zurückzukehren.

Doch wie konnte sie sort, von wo aus man sie erst in zwei sogenannte Judenhäuser und dann ins KZ verschleppt hatte, weiterleben? Er vermöge nicht zu beurteilen, warum sich einige Holocaust-Überlebende für eine Rückkehr ins Land der Täter entschieden, antwortet Ex-Stadtarchivar Schloßmacher auf die GA-Frage. Vielleicht habe Heimatgefühl dazu geführt, vielleicht auch die ökonomische Situation. Entschädigungen seien aber erst spät gezahlt worden. „Wiedergutmachung: welch ein Wort“, empört sich Schloßmacher noch im Nachhinein. Auch das Alter der Betroffenen werde eine Rolle gespielt haben, meint er dann mit Blick auf die damals fast 80-jährige Frau Dardenne.

Helga Schell, die Nachfahrin der Fleischer in der Klosterbergstraße, erinnert sich auf jeden Fall daran, dass ihr ihre Familie von den immer wiederkehrenden nächtlichen Schreien der bei ihnen untergekommenen Mathilde Dardenne erzählte. „Frau Dardenne war voller Angst und hat immer geschrien: Jetzt kommen sie mich wieder holen.“ Schell schaut hinunter zum Stolperstein, der hier für Jetta Sommer, die frühere Hausbesitzerin und Verwandte Mathilde Dardennes, gelegt wurde. Sommer hat den Holocaust nicht überlebt. Die Muffendorfer Fleischersgattin wurde 1942 im KZ Treblinka ermordet. „Eigentlich hätte auch Mathilde Dardenne einen Gedenkstein hier in Muffendorf verdient, damit wir das, was passiert ist, nicht vergessen“, sagt Schell, die als Kind oft zur Pflege von Dardennes Grab auf dem Burgfriedhof mitgenommen wurde.

Ein Stolperstein für Dardenne?

Auch für Frau Dardenne könnte ein Stolperstein verlegt werden, meint auch Schloßmacher. Am ehesten in Muffendorf, wo sie ja die längste Zeit in Bonn gelebt habe. Nach dem im Rahmen des Gedenkprojekts geltenden Ortskriterium kommt als letzter freiwillig gewählter Wohnort vor der Deportation die Muffendorfer Hauptstraße 20 in Frage. Und wie würden das die jetzigen Hausbesitzer sehen? „Wir würden es auf jeden Fall mit unterstützen“, sagt Eigentümerin Ute Maas auf GA-Frage.

Schwerer Umgang – Die Tätergesellschaft

Nach dem Krieg habe man sich auch in Bad Godesberg lange Zeit schwer im Umgang mit Holocaust-Opfern getan, schrieb der Heimatforscher Erhard Stang für die Bonner Geschichtswerkstatt. „Vergessen und verschweigen hieß die Devise.“ Symptomatisch sei das Antwortschreiben der Stadtverwaltung 1960 auf eine Anfrage der Gedenkstätte Yad Vashem nach dem Schicksal der Godesberger Juden gewesen: „Für die Jahre 1940 bis 1944 sind hier keine Todesfälle von Einwohnern jüdischen Glaubens verzeichnet“, meldete die Verwaltung eiskalt zurück. „Ob in diesem Zeitraum im Einzelfall oder gruppenweise solche Einwohner deportiert wurden, konnte nicht ermittelt werden.“ Personen, die eventuell darüber Auskunft geben könnten, seien nicht mehr hier tätig oder tot.

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