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Verein für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.

Verlorene Söhne, verschwundene Länder: Ein Bericht aus Bonn, der einstigen Bundeshauptstadt

(30. Oktober 2022, Berliner TAGESSPIEGEL)

Von Albrecht Selge

Seit dreißig Jahren zieht alles vom Rhein an die Spree, von der Provinz in die Hauptstadt: Impressionen eines Berliner Schriftstellers, der den umgekehrten Weg gegangen ist und Bonner Stadtschreiber wurde.

Albrecht Selge ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm beim Rowohlt Verlag der Roman „Luyánta. Das Jahr in der unselben Welt“

Mit schlechtem Gewissen betritt man als Berliner die Stadt Bonn, schließlich hat Berlin Bonn alles genommen. Nun ja, fast alles, die Bonner leben immerhin, und gar nicht so übel. Die Bonner hatten für dieses Amt, das eigentlich ein pflichtenfreies Schreibstipendium ist, tatsächlich einen Berliner ausgewählt! Einerseits nicht überraschend, weil heutzutage fast alle deutschen Schriftsteller in Berlin leben. Andererseits doch überraschend, zum Beispiel wegen genau solcher „fast- alle“-Überheblichkeiten, die Berlins Ruf im Lande lädieren.

Für meine Familie und mich stellte das Stadtschreiberamt auch eine Art Versuchsballon dar: Nach elf Jahren im Veröffentlichungsbetrieb mit fünf Romanen hatte ich mich zum ersten Mal um eines dieser Aufenthaltsstipendien bemüht, die einen erheblichen Teil der Literaturförderung in Deutschland ausmachen.

Beethoven bietet Trost

Bonn, sagten meine Frau und ich uns, sei noch nah genug, dass ich im Notfall schnell heimkäme, der Beamten-Sprinter-ICE braucht gut vier Stunden, ohne lästige Zwischenhalte oder riskante Zugteilung in Hamm; und doch, sagte ich mir, fern und exotisch genug, um ungestört an einem Roman über Stille und Schweigen zu arbeiten.

Mit Bonn verband mich eine stille Spur in meinem Leben. Denn meine schon länger tote Mutter hatte als Teenager eine Zeit lang in einem Internat in Bad Godesberg gelebt, jener Bonner Vorstadt, die einmal Diplomatenviertel und noch früher ein feiner Badeort war. Heutzutage ist sie eine durchaus schräge Mischung aus Villenviertel und Arabischer Halbinsel, wie ich als Stadtschreiber mit Wohnung ebendort erfahren sollte.

Die „Bundesstadt Bonn“ saugt jedoch seit dem schmerzhaften Verlust ihres Hauptstadtseins vermehrt Trost aus einem verlorenen Sohn viel früherer Jahre. Einem, der im Gegensatz zum biblischen nicht heimkehrte (obwohl er’s zumindest besuchsweise gern getan hätte, es ergab sich bloß nie).

Am Bonner Weltkiosk gab es die „Washington Post“ – und Mickey Maus

Ludwig van Beethoven verließ seine Geburtsstadt im November 1792 als Einundzwanzigjähriger, und alles, was ihn unsterblich machen sollte, schuf er bekanntlich in Wien. So haben die ausgesucht scheußlichen Beethoven- Statuetten, mit denen Bonn übersät ist, etwas von trauriger Wahrhaftigkeit: als goldfarben oder knallgrün angepinselte Kobolde stehen sie hüfthoch in Schaufenstern von Apotheken und dergleichen, leicht peinliche Mutterstadt-Allüre, Ausdruck von lokalpatriotischem Verlegenheitsstolz nach einschneidenden Verlusterfahrungen.

In meiner Bad Godesberger Stadtschreiberwohnung erwarteten mich zur Ankunft als Geschenke meiner freundlichen Gastgeberin eine Beethoven-Melange („meisterliche Komposition in Tee- Moll“ mit Rosenblüten und Ringelblumen) und Beethoven-Schokolade (mit Rum, was der Alkoholiker Beethoven geschätzt hätte).

Gewisse Provinzpossen verschärften die Kulturidentitätskrise der Stadt. So erfährt man aus Gesprächen mit engagierten Bonner Bildungsbürgern und bonnstämmigen Profimusikern, wie sich die lokale Politik zwischen Abriss oder grundsätzlichem Umbau der Beethovenhalle und von Sponsoren angebotenem Neubau eines „Festspielhauses“ derart verzockte oder bloß verzettelte, dass Bonn nun seit Jahren keinen tauglichen Konzertsaal hat.
Das traditionsreiche Beethovenfest machte allerdings in diesem Jahr unter junger Neu-Intendanz aus der Not eine Tugend, indem es durch diverse Spielstätten tingelte und dabei tatsächlich oft schaffte, was sonst penetrant misslingt: „konventionelle Konzertformate aufzubrechen“.
Im 162 Meter hohen Post Tower etwa zwischen altem Regierungsviertel und Rheinauen wechselnde Darbietungen zwischen Parterre und 37. Stock zu hören, zwischen der anmutigen Musik spanischer Barockkomponistinnen und den aufregend vibrierenden Klängen des afroamerikanischen Minimalisten Julius Eastman, der in den 1980er Jahren an Drogen zugrunde ging: Das ist ein atmosphärischer wie musikalischer Hochgenuss.
Und dass das junge Aurora-Orchester, das in der nüchternen Aula der Uni Bonn atemberaubend aufspielt, noch nie in Berlin zu hören war, wirft die Frage auf, wer hier eigentlich die Provinz ist.
Wenn ich durch das 1994 eröffnete Bonner Haus der Geschichte schlendere, empfinde ich wenn nicht Stolz, so doch Freude und Respekt und, ja doch, sogar eine Art Liebe für unser Staatswesen

Eins hat die Rheinstadt auch der anderen diebischen Metropole voraus, dem angeberischen Wien, das Bonns größten Sohn entführte (und ihn doch erst schuf): Während der Hauptstadt des gewaltigen Vielvölkerkaiserreichs das Vielvölkerkaiserreich abhanden kam, indem es sich in die Luft der Geschichte auflöste, gibt es ja jenes Land noch, dessen Hauptstadt Bonn nicht mehr ist. Ja, es ist sogar größer und schöner geworden.

Wenn ich durch das 1994 eröffnete Bonner Haus der Geschichte schlendere, empfinde ich wenn nicht Stolz, so doch Freude und Respekt und, ja doch, sogar eine Art Liebe für unser Staatswesen, das manchmal so kleinlich bis spießig wirkt und doch seit nun über siebzig Jahren gut und menschlich glückt.

Wie absurd dörflich-eng einst in der Bonner Republik alles beieinander lag, wird mir erst richtig klar, als mich Hartmut Palmer durchs alte Regierungsviertel führt. Dem ehemaligen Bonner Korrespondenten der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Spiegel“, den Franz Josef Strauß einst als „Gangster-Journalist“ adelte, merkt man seine einundachtzig Jahre kaum an, abgesehen davon, dass er ein wandelndes Geschichtsbuch der Bonner Republik ist.

Oder besser gesagt ein radelndes, denn wir pedalisieren entspannt im Oktobersonnenschein vom legendären Bundesbüdchen (dem Bonner Weltkiosk, an dem Abgeordnete Würstchen aßen und „Washington Post“ oder Micky- Maus-Hefte kauften) zum tristen Zaun des Bundeskanzleramts, durch den einst betrunkene Journalisten pinkelten, während der junge Gerhard Schröder wiederholt daran rüttelte und den Trinkgenossen in den Ohren lag, sie sollten doch mal über dieses sein Rütteln schreiben.

Die alte Bundespressekonferenz liegt im Tulpenfeld

Wo seit Mitte der sechziger Jahre das Hochhaus Langer Eugen mit den Abgeordnetenbüros steht, grasten in den ersten Jahren der Bonner Republik noch Kühe und Schafe. Und gleich daneben im Tulpenfeld liegt die alte Bundespressekonferenz, die in Deutschland eben nicht von der Regierung geführt wird, sondern von einem selbstbestimmten Journalistenverein, eine demokratische Errungenschaft. In der angrenzenden Kantine traten die Journalisten einst in den „Stullenstreik“, bis eine freche Preiserhöhung zurückgenommen ward.

Auch von einem trinkfreudigen FDP- Abgeordneten höre ich, der im zwischenzeitlichen Plenarsaal im alten Wasserwerk den Bau einer Wendeltreppe direkt von der Kellerbar ans Rednerpult betrieb; und überhaupt manches über die eminente Rolle, die Alkohol und Alkoholismus in der Bonner Republik spielten. Die Polarisierung zwischen linker und rechter Öffentlichkeit aber, die uns heute als krasse Neuentwicklung scheint, sei zu jener Zeit viel heftiger gewesen, niemals hätte ein fortschrittlicher Journalist mit einem von Springer gezecht.

Wie aus einer versunkenen Märchenwelt klingt manches, was der alte Bonnhase Palmer auftischt. Ähnliche Anderwelt-Empfindungen habe ich dann wieder, als ich im Kreise von Düsseldorfer Finanzbeamten den legendären Kanzlerbungalow besichtige, diese Mischung aus von Ludwig Erhard geschätztem Bauhausstil und den nachträglich eingebauten beklemmenden Behaglichkeiten Helmut Kohls; jeden Augenblick rechnet man damit, dass der voluminöse Geist des Altkanzlers durch den schluffigen Flur kommt.

„Eine große unbürgerliche Offenheit“ So spricht Lars Brandt über seinen Vater Willy
Passenderweise hat Hartmut Palmer jüngst kein Sachbuch, sondern einen Roman veröffentlicht über eine Räuberpistole, die die Wirklichkeit schrieb: das durch allerlei Schiebereien gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt anno 1972, bei dem der damalige CDU- Vorsitzende Rainer Barzel zu dem Politiker wurde, der am knappsten von allen nicht Kanzler wurde. Noch vor Wolfgang Schäuble oder Johannes Rau, der als Ministerpräsident von der Landesvertretung NRW aus über den Zaun in den Garten des Kanzleramts hätte spucken können, in das er niemals einziehen sollte.

Nur ein paar Minuten dauert es vom Regierungsviertel ins Zentrum von Bonn, wo die gewählten Stadtoberen sich neuerdings bemühen, den jahrzehntelangen urbanen Erstickungstod durch Autoverkehr zumindest ein wenig zurückzudrehen.
Nicht benzinzornig, eher schwermütig- resigniert klingt die nette ältere Dame, die klagt, es sei „alles noch schlimmer geworden“, seit die Grünen überall Radwege bauten; es gebe ja Menschen wie sie, die aufs Auto angewiesen seien, sie müsse jeden Tag ihren Hund zur Arbeit mitnehmen. Es mag ärgere Dilemmata für ans Privatauto gewöhnte Menschen geben, dennoch ist die Reform einer jahrzehntelang auf „autogerecht“ gestriegelten Stadt gewiss eine Herkulesaufgabe, die nicht frei von Zumutungen ist.

Immerhin, in Bonn wurde seinerzeit eine Autobahnschneise quer durch die schöne Südstadt verhindert, weil ein unvorsichtiger Verkehrsdezernent ein geheimes Planungsmodell aus Versehen vor die Augen der Lokalpresse geraten ließ. Durch die glücklicherweise intakte Südstadt radle ich oft die sechs oder acht Kilometer heim gen Bad Godesberg, etwa nach einem Besuch im sehr tüchtig bespielten Bonner Opernhaus direkt an der Kennedybrücke (von der Wolfgang Koeppen den Abgeordneten Keetenheuve in den Tod springen ließ, in seinem bereits 1953 erschienenen Bonner-Republik-Roman „Das Treibhaus“).

Nehme ich den etwas längeren, dafür sehr schönen Weg am Rhein, so komme ich auch an einem Grundstück vorbei, das sich für mich mit Bedeutung aufgeladen hat, fast als wär’s mein ganz persönliches „Haus der Geschichte“. Dabei steht es nicht mal mehr, nur noch zwei steinerne Türmchen ragen an den Ecken der Uferwegsmauer auf, und an einem dieser Türmchen wurde meine Mutter 1956 oder 1957 fotografiert.

Dass sich an diesem Ort einmal ein Internat für Mädchen der evangelischen Kirche im Rheinland befand, habe ich dem Adressstempel auf dem Fotoalbum entnommen, das sie nach ihrem Tod hinterließ. Das einstige Internatsgebäude ist fort, aber unverkennbar auch von außen ist jenes Türmchen, vor dem das entwurzelte Mädchen sitzt, das später meine Mutter war. Und jedesmal, wenn ich an dem verlassenen Türmchen vorbeikomme, bin ich bewegt.

Über das Internat weiß man selbst im rührigen Godesberger Heimatverein kaum etwas, findet jedoch alte Adressverzeichnisse und auch Fotos der Villa, die dort stand und 1993 abgerissen wurde zugunsten mehrerer Wohnhäuser. Erst der Bonner Altjournalist Hartmut Palmer, wie meine Mutter Jahrgang 1941, erinnert sich gut an das Internat. In der Kolonnaden-Nische unterhalb des Türmchens, an dem meine Mutter damals fotografiert wurde, habe er als Gymnasiast zum ersten Mal geknutscht, mit einem Mädchen aus dem evangelischen Internat.

In derselben Nische direkt unter dem Türmchen finden sich dieser Herbsttage ein paar brennende Kerzen und die Todesanzeige eines auch ungefähr gleichaltrigen Mannes, dessen Geschichte ich nicht kenne. Irgendwie muss er mit dieser Stelle verbunden gewesen sein, wo jetzt Menschen seiner gedenken; vielleicht gar der Unterschlupf eines Wohnungslosen, den man in der Nachbarschaft kannte? Ich habe keine Ahnung. Nicht mehr weit ist es von dieser Stelle zu meiner Bad Godesberger Stadtschreiberwohnung. Es fühlt sich an wie ein seltsames Heimkommen.

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