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Verein für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.

Das Märchenland am Rhein

Friseurbrüder Kruschke fanden als Weltkriegs-Vertriebene eine neue Heimat in Bad Godesberg

(10. März 2016, General-Anzeiger Bonn)

VON ANDREAS DYCK

BAD GODESBERG. Bevor die Brüder Kruschke nach Bad Godesberg kamen, verloren sie für immer ihre alte Heimat. Diese war ihr Dorf bei Landsberg an der Warthe, das heute zu Polen gehört. Das Rheinland mit seinen Burgen, Schlössern, Mythen und Sagen war für die Jungen seit jeher Sehnsuchtsort gewesen, von klein auf träumten sie davon. Doch erst ein Zufall sorgte dafür, dass sie für den Rest des Lebens eine neue Heimat in Bad Godesberg fanden und sich hier als Friseure eine Existenz aufbauten.

Der Zweite Weltkrieg ist Dreh-und Angelpunkt für Rudolf Kruschkes Geschichte, die er in den Godesberger Heimatblättern des Heimatvereins erzählt. Es ist eine Geschichte von Krieg, Vertreibung und Flucht, die heute aktueller denn je ist. Es ist aber auch die Geschichte eines Neuanfangs, der Integration und über Gastfreundschaft gegenüber Fremden, die zu Familie wurden.

Als Helmut Kruschke zur Wehrmacht einberufen wurde, war er 17 Jahre alt. Fast noch ein Kind, sah der Junge den Krieg gleich zweimal. In Frankreich verwundet, wurde er nach seiner Genesung an die Ostfront versetzt, die inzwischen nah an das Deutsche Reich herangerückt war. In der Gewissheit, dass der Krieg schon verloren war, floh Helmut mit einem gleichaltrigen Soldaten und einem jun­gen Offizier, um der russischen Kriegsgefangenschaft zu entkommen – und wurde erwischt. Während der Offizier vor den Augen der Jungen erschossen wurde, schickte man die beiden anderen zurück an die Front. Dort geriet Helmut Kruschke dann doch in die Hände der Russen. Eine Pinkelpause und ein älterer russischer Wachposten, der Mitleid mit dem Jungen empfand, ermöglichten ihm die Flucht und Rückkehr nach Hause.

Es war ein Donnerstag, als die ersten russischen Soldaten durch das Dorf der Kruschkes marschierten. Am 18. Januar 1945 kam mit den Soldaten auch bald der Hunger, denn die Rote Armee machte sich die Vorräte der Dorfbewohner zu eigen. Der Vater wurde ver­schleppt und erst Jahre später durch das Rote Kreuz wiedergefunden. Die große Schwester war schon vor dem Einmarsch geflohen. Die Schrecken und Greuel des Krieges waren für Rudolf traumatisch. Fortan stotterte er stark.

An einem Samstag, dem 5. Januar 1946, wurde die verbliebene Familie vertrieben und in Viehwaggons, in Tierexkrementen kauernd, in Auffanglager gebracht. „Uns Vertriebene wollte niemand haben“, sagt Rudolf Kruschke.

Von Berlin aus machte sich der acht Jahre ältere Helmut im Sommer 1946  auf den Weg nach Koblenz, um einen Freund zu besuchen. Wochenlang legte der gelernte Friseur die Strecke auf einem Fahrrad zurück, bis er schließlich in einem Ort namens Bad Godesberg hielt, um sich die Haare schneiden zu lassen. Im Friseurladen in der Bonner Straße 3/ Ecke Moltkestraße bat ihn der Fri­seurmeister, ein paar Tage zu bleiben und ihm im Laden auszuhelfen. Daraus wurden Monate, bis Helmut schließlich ein Mädchen namens Gerda Jülich und damit seine große Liebe traf.

Als ihm Rudolf im April 1950 von Hannover aus folgte, geschah das, was der heute 81-Jährige als das Wunder von Bad Godesberg bezeichnet: Noch am Bahnhof, als ihm Reisende auf der Wegsuche helfen wollten, war der Junge von seinem Stottern geheilt. In Bad Godesberg Fuß zu fassen, fiel den Brüdern nicht schwer: „Wir wurden mit der typischen rheinischen Gutmütigkeit empfangen und fühlten uns direkt heimisch.“ Allein die Sprache fiel ihnen schwer, weil sie kein Wort Platt verstanden.

Der ältere Bruder hatte inzwischen geheiratet und im Haus der Schwiegermutter in der Villichgasse 48 einen eigenen Friseurladen eröffnet. Dort machte Rudolf seine Friseurlehre. Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit: In Bad Godesberg fand der Junge Anschluss im evangelischen Jungmännerkreis, segelte mit selbst gebastelten Fluggeräten am Rodderberg, lernte seine Frau kennen und eröffnete nach bestandener Meisterprüfung sein eigenes Friseurgeschäft im September 1964 in einem Eckhaus an der Bonner Straße/Nordstraße 29 (heute Laufenbergstraße), dessen Schaufenster er zu jeder Jahreszeit mit liebevoll selbst gebastelter Dekoration ausstattete.

Heute befindet sich Rudolf Kruschke längst im Ruhestand, sein Bruder starb 2009. Gerne er­innert sich Kruschke an die aufregende Zeit der Bonner Republik, als er amerikanischen Soldaten und einem spanischen Botschafter die Haare schnitt und die Rote Armee Fraktion die Republik in Atem hielt. Wenn der Friseurmeister heute Schere und Kamm in die Hände nimmt, dann nur noch für seine Frau. „Solange ich lebe, bin ich der einzige, der ihr die Haare schneidet“, sagt er.

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